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Mascha Kaléko

Mein schönstes Gedicht

Mein schönstes Gedicht?


Ich schrieb es nicht.

 

Aus tiefsten Tiefen stieg es.

 

Ich schwieg es.

 

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Erich Kästner

Kurz gefasster Lebenslauf

Wer nicht zur Welt kommt, hat nicht viel verloren.
Er sitzt im All auf einem Baum und lacht.
Ich wurde seinerzeit als Kind geboren, eh ich´s gedacht.

Die Schule, wo ich viel vergessen habe, bestritt seitdem den größten Teil der Zeit. Ich war ein patentierter Musterknabe. Wie kam das bloß? Es tut mir jetzt noch leid.

Dann gab es Weltkrieg statt der großen Ferien. Ich trieb es mit der Fußartillerie. Dem Globus lief das Blut aus den Arterien. Ich lebte weiter. Frag Sie nicht wie.

Bis dann die Inflation und Leipzig kamen. Mit Kant und Gotisch, Börse und Büro, mit Kunst und Politik und jungen Damen. Und sonntags regnete es sowieso.

Nun bin ich zirka 31 Jahre und habe eine kleine Versfabrik. Ach, an den Schläfen blühn schon graue Haare und meine Freunde werden langsam dick.

Ich setze mich sehr gerne zwischen Stühle. Ich säge an dem Ast, auf dem wir sitzen. Ich gehe durch die Gärten der Gefühle, die tot sind und bepflanze sie mit Witzen.

Auch ich muss meinen Rucksack selber tragen. Der Rucksack wächst, der Rücken wird nicht breiter.
Zusammenfassend lässt sich etwa sagen: Ich kam zur Welt und lebe trotzdem weiter.

Autumn Branches wi wi Isar River Germany

Rainer Maria Rilke

Herbst 

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln fernen Gärten. Sie fallen mit verneinender Gebärde. 

Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. 

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: Es ist in allen. 

Und doch ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. 

Aus: Buch der Bilder

Eugen Roth - Verpasste Gelegenheiten

Ein Mensch, der von der Welt bekäme,
Was er ersehnt – wenn ers nur nähme,
Bedenkt die Kosten und sagt: Nein!
Frau Welt packt also wieder ein.

Der Mensch – nie kriegt ers mehr so billig! –
Nachträglich wär er zahlungswillig...
Frau Welt, noch immer bei Humor,
Legt ihm sogleich was andres vor:

Der Preis ist freilich arg gestiegen...
Der Mensch besinnt sich und lässts liegen.
Das alte Spiel von Wahl und Qual
Spielt er ein drittes, viertes Mal.

Dann endlich ist er alt und weise
Und böte gerne höchste Preise.
Jedoch, sein Anspruch ist vertan,
Frau Welt, sie bietet nichts mehr an.

Und wenn, dann lauter dumme Sachen,
Die nur der Jugend Freude machen,
Wie Liebe und dergleichen Plunder,
Statt Seelenfrieden mit Burgunder...

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Joseph von Eichendorff - Mondnacht

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Es war, als hätt’ der Himmel,

Die Erde still geküßt,

Daß sie im Blütenschimmer

Von ihm nur träumen müsst’.

Die Luft ging durch die Felder,

Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis die Wälder,

So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.
 

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Der Panther - La Panthère

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Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Aus: Neue Gedichte (1907)

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Das Sprungbrett - Eugen Roth

Ein Mensch, den es nach Ruhm gelüstet,

Besteigt, mit großem Mut gerüstet,

Ein Sprungbrett - und man denkt, er liefe

Nun vor und spränge in die Tiefe,

Mit Doppelsalto und dergleichen

Der Menge Beifall zu erreichen.

Doch läßt er, angestaunt von vielen,

Zuerst einmal die Muskeln spielen,

Um dann erhaben vorzutreten,

Als gält's, die Sonne anzubeten.

Ergriffen schweigt das Publikum -

Doch er dreht sich gelassen um

Und steigt, fast möcht man sagen, heiter

Und vollbefriedigt von der Leiter.

Denn, wenn auch scheinbar nur entschlossen,

Hat er doch sehr viel Ruhm genossen,

Genau genommen schon den meisten -

Was sollt er da erst noch was leisten?

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Prometheus Goethe

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Bedecke deinen Himmel, Zeus,

Mit Wolkendunst!

Und übe, Knaben gleich,

Der Disteln köpft,

An Eichen dich und Bergeshöh'n!

Mußt mir meine Erde

Doch lassen steh'n,

Und meine Hütte,

Die du nicht gebaut,

Und meinen Herd,

Um dessen Glut

Du mich beneidest.

     Ich kenne nichts Ärmeres

Unter der Sonn' als euch Götter!

Ihr nähret kümmerlich

Von Opfersteuern

Und Gebetshauch

Eure Majestät

Und darbtet, wären

Nicht Kinder und Bettler

Hoffnungsvolle Toren.

      Da ich ein Kind war,

Nicht wußte, wo aus, wo ein,

Kehrt' ich mein verirrtes Auge

Zur Sonne, als wenn drüber wär

Ein Ohr zu hören meine Klage,

Ein Herz wie meins,

Sich des Bedrängten zu erbarmen.

     Wer half mir

Wider der Titanen Übermut?

Wer rettete vom Tode mich,

Von Sklaverei?

Hast du's nicht alles selbst vollendet,

Heilig glühend Herz?

Und glühtest, jung und gut,

Betrogen, Rettungsdank

Dem Schlafenden dadroben?

     Ich dich ehren? Wofür?

Hast du die Schmerzen gelindert

Je des Beladenen?

Hast du die Tränen gestillet

Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne
geschmiedet

Die allmächtige Zeit

Und das ewige Schicksal,

Meine Herren und deine?

     Wähntest du etwa,

Ich sollte das Leben hassen,

In Wüsten fliehn,

Weil nicht alle Knabenmorgen-

Blütenträume reiften?

     Hier sitz' ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, weinen,

Genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!

Die Bürgschaft - Friedrich Schiller

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
 Damon, den Dolch im Gewande;
 Ihn schlugen die Häscher in Bande.
 „Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
 „Die Stadt vom Tyrannen befreien!“
 „Das sollst du am Kreuze bereuen.“

 „Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit
 Und bitte nicht um mein Leben,
Doch willst du Gnade mir geben,
 Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
 Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
 Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
 Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.“

Da lächelt der König mit arger List
 Und spricht nach kurzem Bedenken:
 „Drei Tage will ich dir schenken.
 Doch wisse! Wenn sie verstrichen, die Frist,
 Eh‘ du zurück mir gegeben bist,
So muss er statt deiner erblassen,
 Doch dir ist die Strafe erlassen.“

 Und er kommt zum Freunde: „Der König gebeut,
 Dass ich am Kreuz mit dem Leben
 Bezahle das frevelnde Streben,
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
 Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
 So bleib du dem König zum Pfande,
 Bis ich komme, zu lösen die Bande.“

 Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen,
 Der andere ziehet von dannen.
 Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
 Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
 Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.

 Da gießt unendlicher Regen herab,
 Von den Bergen stürzen die Quellen,
 Und die Bäche, die Ströme schwellen.
 Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,
Da reißet die Brücke der Strudel hinab,
 Und donnernd sprengen die Wogen
 Des Gewölbes krachenden Bogen.

 Und trostlos irrt er an Ufers Rand,
 Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket,
 Da stößet kein Nachen7 vom sichern Strand,
 Der ihn setze an das gewünschte Land,
 Kein Schiffer lenket die Fähre,
 Und der wilde Strom wird zum Meere.

Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
 Die Hände zum Zeus8 erhoben:
 „O hemme des Stromes Toben!
 Es eilen die Stunden, im Mittag steht
 Die Sonne, und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
 So muss der Freund mir erbleichen.“

 Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
 Und Welle auf Welle zerrinnet,
 Und Stunde an Stunde entrinnet.
60Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut
 Und wirft sich hinein in die brausende Flut
 Und teilt mit gewaltigen Armen
 Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.

 Und gewinnt das Ufer und eilet fort
65Und danket dem rettenden Gotte,
 Da stürzet die raubende Rotte9
 Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
 Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
 Und hemmet des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule.

 „Was wollt ihr?“, ruft er für Schrecken bleich,
 „Ich habe nichts als mein Leben,
 Das muss ich dem Könige geben!“
 Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet euch!“
 Und drei mit gewaltigen Streichen
 Erlegt er, die andern entweichen.

 Und die Sonne versendet glühenden Brand,
 Und von der unendlichen Mühe
Ermattet sinken die Kniee.
 „O hast du mich gnädig aus Räubershand,
 Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
 Und soll hier verschmachtend verderben,
 Und der Freund mir, der liebende, sterben!“

Und horch! da sprudelt es silberhell,
 Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen
 Und stille hält er zu lauschen,
 Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell,
 Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
Und freudig bückt er sich nieder
 Und erfrischet die brennenden Glieder.

 Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
 Und malt auf den glänzenden Matten
 Der Bäume gigantische Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn,
 Will eilenden Laufes vorüberfliehn,
 Da hört er die Worte sie sagen:
 „Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“

 Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorge Qualen,
 Da schimmern in Abendrots Strahlen
 Von ferne die Zinnen von Syrakus,
 Und entgegen kommt ihm Philostratus,
 Des Hauses redlicher Hüter,

Der erkennet entsetzt den Gebieter:

 „Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
 So rette das eigene Leben!
 Den Tod erleidet er eben.
 Von Stunde zu Stunde gewartet‘ er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,
 Ihm konnte den mutigen Glauben
 Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.“

 „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht
 Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
 Des rühme der blutge Tyrann sich nicht,
 Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
 Er schlachte der Opfer zweie
 Und glaube an Liebe und Treue.“

Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
 Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
 Das die Menge gaffend umstehet,
 An dem Seile schon zieht man den Freund empor,
 Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich, Henker“, ruft er, „erwürget!
 Da bin ich, für den er gebürget!“

 Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
 In den Armen liegen sich beide
 Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
 Und zum Könige bringt man die Wundermär,
 Der fühlt ein menschliches Rühren,
 Lässt schnell vor den Thron sie führen.

 Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
 Ihr habt das Herz mir bezwungen,
 Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn,
 So nehmet auch mich zum Genossen an
 Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte.“


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Sachliche Romanze Erich Kästner 

 

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Cafe am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.


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Heinrich Heine
 

Ein Jüngling liebt ein Mädchen

Ein Jüngling liebt ein Mädchen, Die hat einen andern erwählt;

Der andre liebt eine andre, Und hat sich mit dieser vermählt.

Das Mädchen heiratet aus Ärger Den ersten besten Mann, Der ihr in den Weg gelaufen;

Der Jüngling ist übel dran.

Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu;

Und wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei.

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Die Meise

Auguste, wie fast jede Nichte,
Weiß wenig von Naturgeschichte.
Zu bilden sie in diesem Fache,
Ist für den Onkel Ehrensache.
»Auguste«, sprach er, »glaub es mir,
Die Meise ist ein nettes Tier.
Gar zierlich ist ihr Leibesbau,
Auch ist sie schwarz, weiß, gelb und blau.
Hell flötet sie und klettert munter
Am Strauch kopfüber und kopfunter.
Das härtste Korn verschmäht sie nicht,
Sie hämmert, bis die Schale bricht.
Mohnköpfen bohrt sie mit Verstand
Ein Löchlein in den Unterrand,
Weil dann die Sämerei gelind
Von selbst in ihren Schnabel rinnt.
Nicht immer liebt man Fastenspeisen,
Der Grundsatz gilt auch für die Meisen.
Sie gucken scharf in alle Ritzen,
Wo fette Käferlarven sitzen,
Und fangen sonst noch Myriaden
Insekten, die dem Menschen schaden;
Und hieran siehst du außerdem,
Wie weise das Natursystem.« -
So zeigt' er, wie die Sache lag.
Es war kurz vor Martinitag.
Wer da vernünftig ist und kann's
Sich leisten, kauft sich eine Gans.
Auch an des Onkels Außengiebel
Hing eine solche, die nicht übel,
Um, nackt im Freien aufgehangen,
Die rechte Reife zu erlangen.
Auf diesen Braten freute sich
Der Onkel sehr und namentlich
Vor allem auf die braune Haut,
Obgleich er sie nur schwer verdaut.
Martini kam, doch kein Arom
Von Braten spürt' der gute Ohm.
Statt dessen trat voll Ungestüm
Die Nichte ein und zeigte ihm
Die Gans, die kaum noch Gans zu nennen,
Ein Scheusal, nicht zum Wiederkennen,
Zernagt beinah bis auf die Knochen.
Kein Zweifel war, wer dies verbrochen,
Denn deutlich lehrt der Augenschein,
Es konnten nur die Meisen sein.
Also, ade, du braune Kruste! -
»Ja, lieber Onkel«, sprach Auguste,
Die gern, nach weiblicher Manier,
Bei einem Irrtum ihn ertappt:
»Die Meise ist ein nettes Tier.
Da hast du wieder recht gehabt.«
 

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Auf den Tod eines kleinen Kindes


Hermann Hesse


Jetzt bist du schon gegangen, Kind,
Und hast vom Leben nichts erfahren,
Indes in unsern welken Jahren
Wir Alten noch gefangen sind.

Ein Atemzug, ein Augenspiel,
Der Erde Luft und Licht zu schmecken,
War dir genug und schon zuviel;
Du schliefest ein, nicht mehr zu wecken.

Vielleicht in diesem Hauch und Blick
Sind alle Spiele, alle Mienen
Des ganzen Lebens dir erschienen,
Erschrocken zogst du dich zurück.

Vielleicht wenn unsre Augen, Kind,
Einmal erlöschen, wird uns scheinen,
Sie hätten von der Erde, Kind,
Nicht mehr gesehen als die deinen.

 

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Der Urlaub 

Eugen Roth

Ein Mensch, vorm Urlaub, wahrt sein Haus,
Dreht überall die Lichter aus,
In Zimmern, Küche, Bad, Abort –
Dann sperrt er ab, fährt heiter fort.
Doch jäh, zu hinterst in Tirol,
Denkt er voll Schrecken: »Hab ich wohl?«
Und steigert wild sich in den Wahn,
Er habe dieses nicht getan.
Der Mensch sieht, schaudervoll, im Geiste,
Wie man gestohlen schon das meiste,
Sieht Türen offen, angelweit.
Das Licht entflammt die ganze Zeit!
Zu klären solchen Sinnen trug,
Fährt heim er mit dem nächsten Zug
Und ist schon dankbar, bloß zu sehn:
Das Haus blieb wenigstens noch stehn!
Wie er hinauf die Treppen keucht:
Kommt aus der Wohnung kein Geleucht?
Und plötzlich ist's dem armen Manne,
Es plätschre aus der Badewanne!
Die Ängste werden unermessen:
Hat er nicht auch das Gas vergessen?
Doch nein! Er schnuppert, horcht und äugt
Und ist mit Freuden überzeugt,
Dass er – hat er's nicht gleich gedacht? –
Zu Unrecht Sorgen sich gemacht.
Er fährt zurück und ist nicht bang. –
Jetzt brennt das Licht vier Wochen lang.


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Frühlingslächeln

                                                     Erich Kästner

 

Die Sonne lockt nach einem Weilchen
die schönsten Dinge an das Licht,
zum Beispiel: Birkengrün und Veilchen,
und Reiselust und Liederzeilchen,
und manches lächelnde Gesicht.

Der Frühling neckt uns. Wir erwachen.
Die Welt wird wieder froh und grün
und möchte sich vertausendfachen.
Die Blumen blühen, wenn sie lachen.
Die Frauen lächeln, wenn sie blühn.

 

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Die guten Vierziger

                                                       Eugen Roth

Das Leben, meint ein holder Wahn,
geht erst mit vierzig Jahren an.
Wir lassen uns auch leicht betören,
von Meinungen, die wir gern hören,
und halten, längst schon vierzigjährig,
meist unsre Kräfte noch für bärig.
Was haben wir, gestehn wir's offen,
von diesem Leben noch zu hoffen?
Ein Weilchen sind wir noch geschäftig
und vorderhand auch steuerkräftig,
doch spüren wir, wie nach und nach
gemächlich kommt das Ungemach,
und wie Hormone und Arterien
schön langsam gehen in die Ferien.
Man nennt uns rüstig, nennt uns wacker
und denkt dabei: "Der alte Knacker!"
Wir stehn auf unsres Lebens Höhn,
doch ist die Aussicht gar nicht schön -
ganz abgesehen, daß auch zum Schluß
wer droben, wieder runter muß.
Wer es genau nimmt, kommt darauf:
Mit vierzig hört das Leben auf.

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Der Schwarzseher 

                                                    Eugen Roth

Ein Mensch denkt jäh erschüttert dran,
Was alles ihm geschehen kann
An Krankheits- oder Unglücksfällen
Um ihm das Leben zu vergällen.
Hirn, Auge, Ohr, Zahn, Nase, Hals;
Herz, Magen, Leber ebenfalls,
Darm, Niere, Blase, Blutkreislauf
Zählt er bei sich mit Schaudern auf,
Bezieht auch Lunge, Arm und Bein
Nebst allen Möglichkeiten ein.
Jedoch, sogar den Fall gesetzt,
Er bliebe heil und unverletzt,
Ja, bis ins kleinste kerngesund,
Wär doch zum Frohsinn noch kein Grund,
Da an den Tod doch stündlich mahnen
Kraftfahrer, Straßen-, Eisenbahnen;
Selbst Radler, die geräuschlos schleichen,
Sie können tückisch dich erreichen.
Ein Unglücksfall, ein Mord, ein Sturz,
Ein Blitz, ein Sturm, ein Weltkrieg – kurz,
Was Erde, Wasser, Luft und Feuer
In sich birgt, ist nie ganz geheuer.
Der Mensch, der so des Schicksals Macht
Ganz haargenau bei sich durchdacht,
Lebt lange noch in Furcht und Wahn
Und stirbt – und niemand weiß, woran.

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Deutschland ein Wintermärchen   

Heinrich Heine 

Caput 1

Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.

Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.

Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew'gen Wonnen.

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.

Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.

Ein neues Lied, ein besseres Lied!
Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.

Die Jungfer Europa ist verlobt
Mit dem schönen Geniusse
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
Sie schwelgen im ersten Kusse.

Und fehlt der Pfaffensegen dabei,
Die Ehe wird gültig nicht minder –
Es lebe Bräutigam und Braut,
Und ihre zukünftigen Kinder!

Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,
Das bessere, das neue!
In meiner Seele gehen auf
Die Sterne der höchsten Weihe –

Begeisterte Sterne, sie lodern wild,
Zerfließen in Flammenbächen –
Ich fühle mich wunderbar erstarkt,
Ich könnte Eichen zerbrechen!

Seit ich auf deutsche Erde trat,
Durchströmen mich Zaubersäfte –
Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.

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Deutschland ein Wintermärchen

 

Heinrich Heine

Caput 2

 

Während die Kleine von Himmelslust Getrillert und musizieret, Ward von den preußischen Douaniers Mein Koffer visitieret. Beschnüffelten alles, kramten herum In Hemden, Hosen, Schnupftüchern; Sie suchten nach Spitzen, nach Bijouterien, Auch nach verbotenen Büchern. Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht! Hier werdet ihr nichts entdecken! Die Konterbande, die mit mir reist, Die hab ich im Kopfe stecken. Hier hab ich Spitzen, die feiner sind Als die von Brüssel und Mecheln, Und pack ich einst meine Spitzen aus, Sie werden euch sticheln und hecheln. Im Kopfe trage ich Bijouterien, Der Zukunft Krondiamanten, Die Tempelkleinodien des neuen Gotts, Des großen Unbekannten. Und viele Bücher trag ich im Kopf! Ich darf es euch versichern, Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest Von konfiszierlichen Büchern. Glaubt mir, in Satans Bibliothek Kann es nicht schlimmere geben; Sie sind gefährlicher noch als die Von Hoffmann von Fallersleben! - Ein Passagier, der neben mir stand, Bemerkte mir, ich hätte Jetzt vor mir den preußischen Zollverein, Die große Douanenkette. "Der Zollverein" - bemerkte er - "Wird unser Volkstum begründen, Er wird das zersplitterte Vaterland Zu einem Ganzen verbinden. Er gibt die äußere Einheit uns, Die sogenannt materielle; Die geistige Einheit gibt uns die Zensur, Die wahrhaft ideelle - Sie gibt die innere Einheit uns, Die Einheit im Denken und Sinnen Ein einiges Deutschland tut uns not, Einig nach außen und innen.

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Deutschland ein Wintermärchen

 

Heinrich Heine

Caput 3

Zu Aachen, im alten Dome, liegt
Carolus Magnus begraben.
(Man muß ihn nicht verwechseln mit Karl
Mayer, der lebt in Schwaben.)

Ich möchte nicht tot und begraben sein
Als Kaiser zu Aachen im Dome;
Weit lieber lebt' ich als kleinster Poet
Zu Stukkert am Neckarstrome.

Zu Aachen langweilen sich auf der Straß'
Die Hunde, sie flehn untertänig:
»Gib uns einen Fußtritt, o Fremdling, das wird
Vielleicht uns zerstreuen ein wenig.«

Ich bin in diesem langweil'gen Nest
Ein Stündchen herumgeschlendert.
Sah wieder preußisches Militär,
Hat sich nicht sehr verändert.

Es sind die grauen Mäntel noch
Mit dem hohen, roten Kragen –
(Das Rot bedeutet Franzosenblut,
Sang Körner in früheren Tagen.)

Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.

Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengerade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.

Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie,
Sie tragen sie jetzt im Innern;
Das trauliche Du wird immer noch
An das alte Er erinnern.

Der lange Schnurrbart ist eigentlich nur
Des Zopftums neuere Phase:
Der Zopf, der ehmals hinten hing,
Der hängt jetzt unter der Nase.

Nicht übel gefiel mir das neue Kostüm
Der Reuter, das muß ich loben,
Besonders die Pickelhaube, den Helm
Mit der stählernen Spitze nach oben.

Das ist so rittertümlich und mahnt
An der Vorzeit holde Romantik,
An die Burgfrau Johanna von Montfaucon,
An den Freiherrn Fouqué, Uhland, Tieck.

Das mahnt an das Mittelalter so schön,
An Edelknechte und Knappen,
Die in dem Herzen getragen die Treu
Und auf dem Hintern ein Wappen.

Das mahnt an Kreuzzug und Turnei,
An Minne und frommes Dienen,
An die ungedruckte Glaubenszeit,
Wo noch keine Zeitung erschienen.

Ja, ja, der Helm gefällt mir, er zeugt
Vom allerhöchsten Witze!
Ein königlicher Einfall war's!
Es fehlt nicht die Pointe, die Spitze!

Nur fürcht ich, wenn ein Gewitter entsteht,
Zieht leicht so eine Spitze
Herab auf euer romantisches Haupt
Des Himmels modernste Blitze! – –

Zu Aachen, auf dem Posthausschild,
Sah ich den Vogel wieder,
Der mir so tief verhaßt! Voll Gift
Schaute er auf mich nieder.

Du häßlicher Vogel, wirst du einst
Mir in die Hände fallen;
So rupfe ich dir die Federn aus
Und hacke dir ab die Krallen.

Du sollst mir dann, in luft'ger Höh',
Auf einer Stange sitzen,
Und ich rufe zum lustigen Schießen herbei
Die rheinischen Vogelschützen.

Wer mir den Vogel herunterschießt,
Mit Zepter und Krone belehn ich
Den wackern Mann! Wir blasen Tusch
Und rufen: »Es lebe der König!«

Hören 

Deutschland ein Wintermärchen

 

Heinrich Heine

Caput 4

Zu Köllen kam ich spätabends an,
Da hörte ich rauschen den Rheinfluß,
Da fächelte mich schon deutsche Luft,
Da fühlt ich ihren Einfluß -

Auf meinen Appetit. Ich aß
Dort Eierkuchen mit Schinken,
Und da er sehr gesalzen war,
Mußt ich auch Rheinwein trinken.

Der Rheinwein glänzt noch immer wie Gold
Im grünen Römerglase,
Und trinkst du etwelche Schoppen zuviel,
So steigt er dir in die Nase.

In die Nase steigt ein Prickeln so süß,
Man kann sich vor Wonne nicht lassen!
Es trieb mich hinaus in die dämmernde Nacht,
In die widerhallenden Gassen

Die steinernen Häuser schauten mich an,
Als wollten sie mir berichten
Legenden aus altverschollener Zeit,
Der heil'gen Stadt Köllen Geschichten.

Ja, hier hat einst die Klerisei
Ihr frommes Wesen getrieben,
Hier haben die Dunkelmänner geherrscht,
Die Ulrich von Hutten beschrieben.

Der Cancan des Mittelalters ward hier
Getanzt von Nonnen und Mönchen;
Hier schrieb Hochstraaten, der Menzel von Köln,
Die gift'gen Denunziatiönchen.

Die Flamme des Scheiterhaufens hat hier
Bücher und Menschen verschlungen;
Die Glocken wurden geläutet dabei
Und Kyrie eleison gesungen.

Dummheit und Bosheit buhlten hier
Gleich Hunden auf freier Gasse;
Die Enkelbrut erkennt man noch heut
An ihrem Glaubenshasse.

Doch siehe! dort im Mondenschein
Den kolossalen Gesellen!
Er ragt verteufelt schwarz empor,
Das ist der Dom von Köllen.

Er sollte des Geistes Bastille sein,
Und die listigen Römlinge dachten:
In diesem Riesenkerker wird
Die deutsche Vernunft verschmachten!

Da kam der Luther, und er hat
Sein großes »Halt!« gesprochen –
Seit jenem Tage blieb der Bau
Des Domes unterbrochen.

Er ward nicht vollendet – und das ist gut.
Denn eben die Nichtvollendung
Macht ihn zum Denkmal von Deutschlands Kraft
Und protestantischer Sendung.

Ihr armen Schelme vom Domverein,
Ihr wollt mit schwachen Händen
Fortsetzen das unterbrochene Werk,
Und die alte Zwingburg vollenden!

O törichter Wahn! Vergebens wird
Geschüttelt der Klingelbeutel,
Gebettelt bei Ketzern und Juden sogar;
Ist alles fruchtlos und eitel.

Vergebens wird der große Franz Liszt
Zum Besten des Doms musizieren,
Und ein talentvoller König wird
Vergebens deklamieren!

Er wird nicht vollendet, der Kölner Dom,
Obgleich die Narren in Schwaben
Zu seinem Fortbau ein ganzes Schiff
Voll Steine gesendet haben.

Er wird nicht vollendet, trotz allem Geschrei
Der Raben und der Eulen,
Die, altertümlich gesinnt, so gern
In hohen Kirchtürmen weilen

Ja, kommen wird die Zeit sogar,
Wo man, statt ihn zu vollenden,
Die inneren Räume zu einem Stall
Für Pferde wird verwenden.

»Und wird der Dom ein Pferdestall,
Was sollen wir dann beginnen
Mit den Heil'gen Drei Kön'gen, die da ruhn
Im Tabernakel da drinnen?«

So höre ich fragen. Doch brauchen wir uns
In unserer Zeit zu genieren?
Die Heil'gen Drei Kön'ge aus Morgenland,
Sie können woanders logieren.

Folgt meinem Rat und steckt sie hinein
In jene drei Körbe von Eisen,
Die hoch zu Münster hängen am Turm,
Der Sankt Lamberti geheißen.

Der Schneiderkönig saß darin
Mit seinen beiden Räten,
Wir aber benutzen die Körbe jetzt
Für andre Majestäten.

Zur Rechten soll Herr Balthasar,
Zur Linken Herr Melchior schweben,
In der Mitte Herr Gaspar – Gott weiß, wie einst
Die drei gehaust im Leben!

Die Heil'ge Allianz des Morgenlands,
Die jetzt kanonisieret,
Sie hat vielleicht nicht immer schön
Und fromm sich aufgeführet.

Der Balthasar und der Melchior,
Das waren vielleicht zwei Gäuche,
Die in der Not eine Konstitution
Versprochen ihrem Reiche,

Und später nicht Wort gehalten – Es hat
Herr Gaspar, der König der Mohren,
Vielleicht mit schwarzem Undank sogar
Belohnt sein Volk, die Toren!

Hören 

Deutschland ein Wintermärchen

 

Heinrich Heine

Caput 5

 

Und als ich an die Rheinbrück' kam,

Wohl an die Hafenschanze,

Da sah ich fließen den Vater Rhein

Im stillen Mondenglanze.

 

»Sei mir gegrüßt, mein Vater Rhein,

Wie ist es dir ergangen?

Ich habe oft an dich gedacht

Mit Sehnsucht und Verlangen.«

 

So sprach ich, da hört ich im Wasser tief

Gar seltsam grämliche Töne,

Wie Hüsteln eines alten Manns,

Ein Brümmeln und weiches Gestöhne:

 

»Willkommen, mein Junge, das ist mir lieb,

Daß du mich nicht vergessen;

Seit dreizehn Jahren sah ich dich nicht,

Mir ging es schlecht unterdessen.

 

Zu Biberich hab ich Steine verschluckt,

Wahrhaftig, sie schmeckten nicht lecker!

Doch schwerer liegen im Magen mir

Die Verse von Niklas Becker.

 

Er hat mich besungen, als ob ich noch

Die reinste Jungfer wäre,

Die sich von niemand rauben läßt

Das Kränzlein ihrer Ehre.

 

Wenn ich es höre, das dumme Lied,

Dann möcht ich mir zerraufen

Den weißen Bart, ich möchte fürwahr

Mich in mir selbst ersaufen!
[446]

Daß ich keine reine Jungfer bin,

Die Franzosen wissen es besser,

Sie haben mit meinem Wasser so oft

Vermischt ihr Siegergewässer.

 

Das dumme Lied und der dumme Kerl!

Er hat mich schmählich blamieret,

Gewissermaßen hat er mich auch

Politisch kompromittieret.

 

Denn kehren jetzt die Franzosen zurück,

So muß ich vor ihnen erröten,

Ich, der um ihre Rückkehr so oft

Mit Tränen zum Himmel gebeten.

 

Ich habe sie immer so liebgehabt,

Die lieben kleinen Französchen –

Singen und springen sie noch wie sonst?

Tragen noch weiße Höschen?

 

Ich möchte sie gerne wiedersehn,

Doch fürcht ich die Persiflage,

Von wegen des verwünschten Lieds,

Von wegen der Blamage.

 

Der Alfred de Musset, der Gassenbub',

Der kommt an ihrer Spitze

Vielleicht als Tambour, und trommelt mir vor

All seine schlechten Witze.«

 

So klagte der arme Vater Rhein,

Konnt sich nicht zufriedengeben.

Ich sprach zu ihm manch tröstendes Wort,

Um ihm das Herz zu heben:
[447]

»O fürchte nicht, mein Vater Rhein,

Den spöttelnden Scherz der Franzosen;

Sie sind die alten Franzosen nicht mehr,

Auch tragen sie andere Hosen.

 

Die Hosen sind rot und nicht mehr weiß,

Sie haben auch andere Knöpfe,

Sie singen nicht mehr, sie springen nicht mehr,

Sie senken nachdenklich die Köpfe.

 

Sie philosophieren und sprechen jetzt

Von Kant, von Fischte und Hegel,

Sie rauchen Tabak, sie trinken Bier,

Und manche schieben auch Kegel.

 

Sie werden Philister ganz wie wir,

Und treiben es endlich noch ärger;

Sie sind keine Voltairianer mehr,

Sie werden Hengstenberger.

 

Der Alfred de Musset, das ist wahr,

Ist noch ein Gassenjunge;

Doch fürchte nichts, wir fesseln ihm

Die schändliche Spötterzunge.

 

Und trommelt er dir einen schlechten Witz,

So pfeifen wir ihm einen schlimmern,

Wir pfeifen ihm vor, was ihm passiert

Bei schönen Frauenzimmern.

 

Gib dich zufrieden, Vater Rhein,

Denk nicht an schlechte Lieder,

Ein besseres Lied vernimmst du bald –

Leb wohl, wir sehen uns wieder.«

Hören

Deutschland ein Wintermärchen

 

Heinrich Heine

Caput 6

Den Paganini begleitete stets Ein Spiritus familiaris, Manchmal als Hund, manchmal in Gestalt Des seligen Georg Harrys. Napoleon sah einen roten Mann Vor jedem wicht'gen Ereignis. Sokrates hatte seinen Dämon, Das war kein Hirnerzeugnis. Ich selbst, wenn ich am Schreibtisch saß Des Nachts, hab ich gesehen Zuweilen einen vermummten Gast Unheimlich hinter mir stehen. Unter dem Mantel hielt er etwas Verborgen, das seltsam blinkte, Wenn es zum Vorschein kam, und ein Beil, Ein Richtbeil, zu sein mir dünkte. Er schien von untersetzter Statur, Die Augen wie zwei Sterne; Er störte mich im Schreiben nie, Blieb ruhig stehn in der Ferne. Seit Jahren hatte ich nicht gesehn Den sonderbaren Gesellen, Da fand ich ihn plötzlich wieder hier In der stillen Mondnacht zu Köllen. Ich schlenderte sinnend die Straßen entlang, Da sah ich ihn hinter mir gehen, Als ob er mein Schatten wäre, und stand Ich still, so blieb er stehen. Blieb stehen, als wartete er auf was, Und förderte ich die Schritte, Dann folgte er wieder. So kamen wir Bis auf des Domplatz' Mitte. Es ward mir unleidlich, ich drehte mich um Und sprach: »Jetzt steh mir Rede, Was folgst du mir auf Weg und Steg Hier in der nächtlichen Öde? Ich treffe dich immer in der Stund', Wo Weltgefühle sprießen In meiner Brust und durch das Hirn Die Geistesblitze schießen. Du siehst mich an so stier und fest – Steh Rede: Was verhüllst du Hier unter dem Mantel, das heimlich blinkt? Wer bist du und was willst du?« Doch jener erwiderte trockenen Tons, Sogar ein bißchen phlegmatisch: »Ich bitte dich, exorziere mich nicht, Und werde nur nicht emphatisch! Ich bin kein Gespenst der Vergangenheit, Kein grabentstiegener Strohwisch, Und von Rhetorik bin ich kein Freund, Bin auch nicht sehr philosophisch. Ich bin von praktischer Natur, Und immer schweigsam und ruhig. Doch wisse: was du ersonnen im Geist, Das führ ich aus, das tu ich Und gehn auch Jahre drüber hin, Ich raste nicht, bis ich verwandle In Wirklichkeit, was du gedacht; Du denkst, und ich, ich handle. Du bist der Richter, der Büttel bin ich, Und mit dem Gehorsam des Knechtes Vollstreck ich das Urteil, das du gefällt, Und sei es ein ungerechtes. Dem Konsul trug man ein Beil voran Zu Rom, in alten Tagen. Auch du hast deinen Liktor, doch wird Das Beil dir nachgetragen. Ich bin dein Liktor, und ich geh Beständig mit dem blanken Richtbeile hinter dir – ich bin Die Tat von deinem Gedanken.«

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Deutschland ein Wintermärchen

Heinrich Heine

Caput 8

Von Köllen bis Hagen kostet die Post Fünf Taler sechs Groschen preußisch. Die Diligence war leider besetzt, Und ich kam in die offene Beichais'. Ein Spätherbstmorgen, feucht und grau, Im Schlamme keuchte der Wagen; Doch trotz des schlechten Wetters und Wegs Durchströmte mich süßes Behagen. Das ist ja meine Heimatluft! Die glühende Wange empfand es! Und dieser Landstraßenkot, er ist Der Dreck meines Vaterlandes! Die Pferde wedelten mit dem Schwanz So traulich wie alte Bekannte, Und ihre Mistküchlein dünkten mir schön Wie die Äpfel der Atalante! Wir fuhren durch Mühlheim. Die Stadt ist nett, Die Menschen still und fleißig. War dort zuletzt im Monat Mai Des Jahres einunddreißig. Damals stand alles im Blütenschmuck Und die Sonnenlichter lachten, Die Vögel sangen sehnsuchtvoll, Und die Menschen hofften und dachten – Sie dachten: ›Die magere Ritterschaft Wird bald von hinnen reisen, Und der Abschiedstrunk wird ihnen kredenzt Aus langen Flaschen von Eisen! Und die Freiheit kommt mit Spiel und Tanz, Mit der Fahne, der weißblauroten; Vielleicht holt sie sogar aus dem Grab Den Bonaparte, den Toten!‹ Ach Gott! die Ritter sind immer noch hier, Und manche dieser Gäuche, Die spindeldürre gekommen ins Land, Die haben jetzt dicke Bäuche. Die blassen Kanaillen, die ausgesehn Wie Liebe, Glauben und Hoffen, Sie haben seitdem in unserm Wein Sich rote Nasen gesoffen – – – Und die Freiheit hat sich den Fuß verrenkt, Kann nicht mehr springen und stürmen; Die Trikolore in Paris Schaut traurig herab von den Türmen. Der Kaiser ist auferstanden seitdem, Doch die englischen Würmer haben Aus ihm einen stillen Mann gemacht, Und er ließ sich wieder begraben. Hab selber sein Leichenbegängnis gesehn, Ich sah den goldenen Wagen Und die goldenen Siegesgöttinnen drauf, Die den goldenen Sarg getragen. Den Elysäischen Feldern entlang, Durch des Triumphes Bogen, Wohl durch den Nebel, wohl über den Schnee Kam langsam der Zug gezogen. Mißtönend schauerlich war die Musik. Die Musikanten starrten Vor Kälte. Wehmütig grüßten mich Die Adler der Standarten. Die Menschen schauten so geisterhaft In alter Erinnrung verloren – Der imperiale Märchentraum War wieder heraufbeschworen. Ich weinte an jenem Tag. Mir sind Die Tränen ins Auge gekommen, Als ich den verschollenen Liebesruf, Das »Vive l'Empereur!«, vernommen.

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