top of page

Piko, das Rattenmädchen

Wir hatten Mäuse im Haus oder Ratten. So genau wussten wir das nicht. Die Tiere waren hungrig und fraßen Seife. Ratten und Mäuse mögen Seife. Die scharfen Nagezähne hinterließen rillige  Spuren auf den glatten Seifenstücken. Die Seife wäre kein Problem gewesen. Aber dabei blieb es selbstverständlich nicht. Brot wurde angeknabbert, Reissäcke durchlöchert, Spaghettiverpackungen geöffnet. Doch damit nicht genug: Elektrokabel wurden angefressen, Kissen durchlöchert, die Federn geraubt und zum Nestbau verwendet. Unsere Geduld war zu Ende.

“Wir müssen etwas tun”, sagte Atsuko entnervt, bei der zweiten Tasse Kaffe, dessen Pulver sie in eine andere Tüte umgefüllt hatte, weil die Tierchen auch darin ein Loch gebissen hatten. Sie blickte unglücklich in das vor ihr stehende schwarze dampfende Getränk und dann herausfordernd auf mich.

“Wir müssen sie lebend fangen.”

Ich war einverstanden. Nicht nur, dass etwas zu tun war. Auch, dass wir Lebendfallen verwenden würden. Diese Fallen sind auf Bali für den Mäuse – und Rattenfang üblich. Nur: erhöhen die Fallen die Überlebenschancen der Mäuse und Ratten nicht. Sie werden, wenn sie in der Falle sitzen, mitsamt dem Käfig in einem mit Wasser gefüllten Eimer ertränkt.

“Und wenn wir sie haben?”, fragte ich.
“Wir werden sie frei lassen”, antwortete Atsuko.
Nicht dass mich ihre Absicht gestört hätte. Es erscheint mir wenig attraktiv, ein hilfloses knopfäugiges Tierchen zu ertränken.

Rattewixwix4Q4A9301.jpg

Aber hier meldete sich plötzlich und unerwartet ein Gefühl der Solidarität mit der menschlichen Art.

“Wir dürfen die Schäden, die diese Tiere anrichten, nicht einfach ignorieren. Sie übertragen Krankheiten, zerstören Ernten, unterminieren die staatliche Sicherheit.”
“Du willst sie also umbringen!”, sagte Atsuko.

“Ich will sie nicht umbringen, ich will aber zu bedenken geben...”

Am Abend war die erste Falle gestellt – ein Drahkasten12 mal 12 Zentimeter hoch und breit und 25 Zentimeter tief, in dem ein Stück Käse verführerisch duftete und mit einem Draht verbunden war, der die Tür des Drahtverhaus offen hielt. Die Tür würde zuschnappen, wenn etwas kräftig an dem Käse zog.

Am Morgen saß sie in der Falle.
“Eine Maus.”
“Nein, eine Ratte. Sieh dir den Schwanz an”, sagte ich. Sie machte ein Foto, um es an eine Freundin, eine Tierärztin zu schicken. Die Antwort kam verblüffend schnell: “Eine hübsche junge Ratte”, wurde mitgeteilt. Und: “Was wollt ihr mit ihr machen?”

Bevor Atsuko das Foto verschickte, nahm sie mir das Versprechen ab, nichts gegen das Tierchen zu unternehmen, bis sie zurück wäre.
Als sie zurückkam, hatte ich Brotstückchen durch das Käfiggitter geschoben, die dankbar angenommen wurden. Die Ratte hatte sich auf ihre Hinterbeinchen gesetzt, das Brot in ihre Händchen genommen, die in ihrer dürren Feingliedrigkeit an einen alten Pianisten erinnerten und knabberte.

“Ihre Henkersmahlzeit?”, fragte Atsuko.

“Nein, natürlich nicht”, sagte ich. “Ich werde sie nicht umbringen.”
Atsuko schob ein paar Gurkenstücke und zwei Mandarinenschnitze in den Käfig.

“Was hältst du davon, wenn wir sie heute Abend im Park frei lassen?”, fragte ich.

Die kleine Ratte schoss durch den geöffneten Käfig in die Freiheit, hüpfte über ein paar Grasbüschel und verschwand zwischen ein paar Steinen unter einem Busch.

Am nächsten und übernächsten Abend ließen wir zwei weitere Jungratten an derselben Stelle frei. Danach blieb die Falle leer.
Ein paar Monate später vergnügte sich Dako die Katze mit einem ballähnlichen Etwas auf dem Wohnzimmer- boden. Sie kickte, setzte nach, drosch mit der Pfote, setzte wieder nach, stoppte das rollende Bällchen, schob dann vorsichtig lauernd, setzte nach, kickte wieder, warf in die Luft, fing auf und verlor das Interesse.

Das “was immer es sein mochte” war am Rand einer Mauer zu liegen gekommen, an der in der Regenzeit das Wasser runterlief. Ich wollte sehen, was die Katze durch die Gegend geschoben hatte, ging durchs Wohnzimmer und sah eine kleine Ratte, ein rötlich rundes Neugeborenes mit geschlossenen Augen.

Ich nahm das nackte, haarlose Tier, legte es auf meine Hand. Eine Ratte flüsterte ich zu Atsuko hinüber. Sie ist tot, wollte ich sagen, als sich der winzige Brustkorb kaum wahrnehmbar hob und senkte. “Sie lebt.”

Atsuko hielt mir ihre zusammengelegten nach oben gekehrten Handflächen auffordernd hin. Ich legte das Neugeborene hinein.
Sie strahlte eine Mutterfreude aus, die über Artgrenzen hinweg reicht und sich auch darin zeigt, dass Tigerinnen die Aufzucht von Ferkeln auf sich nehmen oder umkehrt Säue junge Tiger wie ihre Ferkel an die Brüste nehmen. “Mach ein wenig Milch warm”, befahl Atsuko, “hand- warm”.

Sie setzte sich an den Wohnzimmertisch, breitete einige Papiertaschentücher darauf und bettete das Tierkind auf die weißen weichen Unterlagen.
Mit einem Löffel füllte ich die warme Milch in die Rillen ihrer linken Handfläche, die so an kleine weiße Bäche erinnerten. Vorsichtig hielt sie das blinde Tierbaby an die Quelle in ihrer Hand. Eine kleine rote Zunge schob sich aus dem winzigen Mäulchen und schlabberte.

“Wie sollen wir sie nennen?”
“Ich weiß nicht”, sagte ich vorsichtig, weil ich nicht davon überzeugt war, dass das Tierchen durchkommen würde und mir die Trennung von einem unbenannten Wesen schmerzloser erschien als die von einem, das wir durch einen Namen in unsere Welt hineingeholt hätten. “Komm schon”, sag was. Atsuko war begeistert von ihrer Mutterrolle und machte sich keine Sorgen um zukünftige Schmerzen.
“Piko”, sagte ich.
“Piko?” Atsuko wärmte das Mäusebaby mit ihrem Atem. Dann hielt sie ihre Hände so, dass sie es sehen konnte. Die kleine Schnauze schnüffelte witternd in der Luft und war auf Atsuko gerichtet. “Piko”, sagte sie zärtlich.


Hören

Piko, das Rattenmädchen - Teil 2

Nach einer Woche öffnete Piko die Augen. Atsuko stritt über Art – und Geschlechtszuhörigkeit mit mir. Sie war davon überzeugt, ein Mäusemädchen aufzuziehen. Auch die Weiblichkeit Pikos war für sie von Bedeutung. Weiblichkeit war für sie nicht auf Menschenfrauen beschränkt. Ihr Zauber und – wie sie fand – moralische Überlegenheit umfasste alle Säugetiere. Piko, war also ein Mädchen, wie Dako, die Katze, die die Findelratte wie einen Fußball über den Boden gekickt und damit, wie ich meinte, ihre moralische Überlegenheit nicht unter Beweis gestellt hatte.

Die Bilder, die Atsuko ihrer Tierarztfreundin geschickt hatte, konnten – altersbedingt – zu keiner Klärung der Geschlechtszugehörigkeit führen. Aber sie zeigten der Fachfrau, dass Piko, das Mäusemädchen, eine Ratte war. Atsuko wäre eine Maus lieber gewesen, denn Ratten hatten einen schlechten Ruf. Aber sie hielt sich nicht lange damit auf, Pikos Artzugehörigkeit schlimm zu finden. Sie hätte allerdings Grund dazu gehabt, der nicht mit der Urfeindschaft von Ratten und Menschen zusammenhing, sondern persönlicher Natur war. Damals hatte das Ereignis bei mir Angst und Schrecken ja Wut ausgelöst und mich für einige Tage in einen Rattenfeind mit allen Attributen des Hasses verwandelt.

Das zu Beschreibende hatte sich auf Sulawesis Südwestspitze, in Bira, zugetragen, einem kleinen Nest, am Ende des Landes, wo nach Süden hin nur Wasser ist und nach Osten und Westen kaum mehr. Die Unterkunft war billig. Auf Pfähle gebaute Hütten mit einem großen Bett. Durch breite Spalte und große Lücken in den

Bretterwänden floss kühlende Luft. Wir hatten gute Tage zusammen. Das einfache Bad reichte uns. Als wir früh das Licht gelöscht hatten, um am nächsten Tag um sechs erfrischt aufzustehen, rief Atsuko plötzlich meinen Namen.

“Bist du das?” Nein, ich war es nicht. “Wieso?” Dann schrie sie. Ich tastete mich im Dunkeln nach dem Lichtschalter, stolperte und fand ihn. Aus einer Wunde auf ihrer rechten Wange lief Blut. Zwei keilförmige, dicht nebeneinander liegende Beißspuren hielt ich für die Abdrücke von Schlangenzähnen. Atsuko blickte mich freundlich – gefasst an. Als sie das Blut spürte, begann sie zu weinen. Ich machte mich auf die Suche nach dem Angreifer, nach der Schlange, wie ich meinte. Nichts. Ich schlug Alarm, machte meinem Ärger Luft. Eine Unterkunft, in der man von einer Schlange gebissen wird! Der junge Bursche, der uns das Zimmer gegeben hatte, kam und blickte unsicher auf Atsukos Wunde. “Tikus” (Ratte), sagte er. “Tikus?”, fragte Atsuko. Der Bursche nickte. Ich sagte, dass wir gleich auschecken und selbstver- ständlich nichts bezahlen würden.

Blut war reichlich geflossen, hatte auf dem Bezug einen roten Fleck gebildet und war zum Stillstand gekommen. Ich hatte die Wunde mit Alkohol gereinigt und ein Pflaster drauf geklebt.

Als wir unser Gepäck in die andere Unterkunft gebracht hatten, sagte Atsuko: “Sie wird Hunger gehabt haben. Vermutlich hat sie die Seife angelockt, mit der ich mich gewaschen habe.”

Piko jedenfalls war Atsukos Findelmädchen und mit keinem Wort hat sie in ihrer Gegenwart den Rattenbiss von Sulawesi erwähnt.

Die kleine Ratte öffnete wenige Tage, nachdem Dako mit ihr gespielt hatte, die Augen. Ein Karton wurde zu ihrem Kinderzimmer, weiche weiße Wattebäusche zu einem wärmenden Nest.

Nach drei Wochen fraß Piko Alles, was wir ihr anboten: gekochte Spaghetti, das weiße Innere von Brot, Apfel- , Bananen- und Käsestückchen. Piko schleckte Yoghurt und Kuhmilch, trank Wasser. Bier kam aus Altersgründen nicht in Frage. Ein Jahr später allerdings füllten wir winzige Mengen davon in einen Kronenkorken, deren Verzehr unseren Nager in eine ausgelassene Hochstimmung versetzte.

Pikos Babyzeit ging schnell zu Ende. Sie hatte vielleicht zwei Jahre vor sich und keine Lust, viel davon als tappsiges, hilfloses Wesen zu verschwenden. Nach einigen Wochen machte uns Piko klar, dass wir es in ihr mit einem durchsetzungsfähigen Wesen zu tun hatten, das nicht daran dachte Grenzen zu beachten, die es überwinden konnte.

Ein Karton ist für eine Ratte nicht schwieriger zu durchdringen als eine japanische Wand für einen Tiger. Immer noch minderjährig, ein paar Wochen alt, durchnagte Piko den Karton und erkundete das Wohnzimmer. Zweifellos hatte sie Glück, nicht wieder von der Katze entdeckt zu werden. Trotz des Wagemuts, schien das Tierchen seine Grenzen zu kennen und zu ahnen, dass es gefährdet war. Es bewegte sich meist in der Kante, die vom Übergang Zimmerwand zu Boden gebildet wird, huschte darin entlang und kehrte nach kurzen Ausflügen wieder in seine kleine Pappwohnung zurück, die an der Oberseite durch dicke Bücher gesichert war.

Hören

Piko, das Rattenmädchen - Teil 3


Die Frage der Freilassung, die Rückgabe in die Natur, wurde von Atsuko mit dem Hinweis beiseite gewischt, dass Rattenpopulationen nicht dazu neigten, Fremde aufzunehmen, schon gar keine solchen, denen Menschengeruch aus allen Haarspitzen strömt. Auch wenn wir mit unserem kleinen Freund die besten Erfahrungen gemacht hatten, sollten wir uns nicht darüber täuschen, dass Ratten wilde Territorialkämpfe austrugen und es an Brutalität fast mit uns Menschen aufnehmen konnten, erklärte sie.

Piko musste also bei uns bleiben, weil wir sie gerettet hatten. Ein merkwürdiges Schicksal hatte sie an uns gebunden. Atsuko sah betrübt aus, als sie sagte: Wir werden nie wissen, ob Piko nicht lieber frei wäre.

Nach einem halben Jahr bestätigte die japanische Tierärztin, durch ein weiteres Foto versichert, dass Piko ein Rattenmädchen war. Im Gegensatz zu Atsuko maß ich

dieser Tatsache keine große Bedeutung bei und wurde von ihr regelmäßig korrigiert, wenn ich mich unsauber ausdrückte und “sie” und “er” verwechselte. Sicherlich zeigte sich bei mir eine Neigung die Geschlechtlichkeit von Ratten geringer zu berücksichtigen als die von Hunden, Katzen oder gar Pferden, bei denen ich kaum Männchen und Weibchen durcheinander gebracht hätte.

Atsuko bat mich eine neue Behausung für Piko zu basteln, aus Drahtgeflecht, denn fast alles Andere als das Material, aus dem auch die Rattenfallen gemacht sind, würde ihren Nagezähnen nicht lange standhalten. Ein würfelförmiges Gebilde aus schmalen Holzlatten, ungefähr einen Drittelmeter lang, breit und tief, ummantelte ich mit dünnmaschigem Draht, an dem Piko mit Herzenslust hinauf – und hinunterkletterte. sie hatte keinerlei Schwierigkeiten kopfüber zu hängen oder an der Decke entlang zu spazieren. Der lange dünne Schwanz wurde geschickt zur Stabilisierung des Gleichgewichts eingesetzt.

Dako, die Katze, erschien der jungen Ratte, zu deren Verdruss wie ein ungefährlicher Papiertiger, deren Nähe mit heftigem Rütteln am Drahtgeflecht und wütendem Hin – und Herrennen als unerwünscht deklariert wurde. Immerhin hatte Piko ein Zusammentreffen mit Dako als Baby überstanden und die vage Erinnerung daran mag ihr das Gefühl gegeben haben, dass die Katze zwar unsympathisch, aber ungefährlich war.

Obwohl wir den kleinen Drahtwürfel mit Kartonteilen, Wattebäuschen, Toilettenpapier, rattenfreundlich

einrichteten, war er für Piko zwar eine sichere und für Dako uneinnehmbare Festung, aber nicht die große Freiheit Nummer Sieben, von der alle jungen Wesen träumen.

Diese Freiheit erfüllte sich im Spiel. Die Ratte war handzahm geworden und spazierte, sobald Atsuko den Käfig öffnete, kontaktfreudig auf ihre Hand, wurde von dort auf ihre Schulter gesetzt. Im ersten Stockwerk begann die Zeit des Tollens, Fangens und Streichelns, Stunden, in denen Piko eindeutig den aktiven Part inne hatte.

Atsuko lag auf dem Bett, las in einem Buch, blätterte in einer Zeitung. Piko hopste um sie rum, über sie hinweg, spielte mit den raschelnden Papierseiten, verspeiste von dem Futter, das in einem Schälchen bereit stand, kam zu Atsuko zurück, die sie am Hals kraulte, kletterte an den Holzbeinen des Betts hinunter, sprang zurück auf ́s Bett, zwängte sich unter Atsukos Hand, um beachtet zu werden, sprang wieder vom Bett, um einen Schrank zu erklimmen, um dann am Metallgitter des Fensters hinaufzusteigen, die Vorhangstange entlang zu rennen und endlich wieder zu Atsuko zurück zu kommen, um nochmals am Hals gekrault zu werden. Und wenn das geliebte Kraulen ausblieb, machte Piko ihre Wünsche deutlich, indem sie sich auf die Buchseiten setzte, die Atsuko las. Atsuko konnte, wenn sie ihr Kindchen einige Male aufgefordert hatte, die Störungen zu lassen, wütend werden und die Ratte mit lautem Geschrei durchs Zimmer scheuchen.
Pikos Käfig stand im Wohnzimmer, auf der Treppe, die in den ersten Stock und in das Gästezimmer führte, in dem wir mit ihr spielten.

Natürlich war ich an der Unterhaltung der Ratte beteiligt. Atsuko und ich waren uns da nahe, wahrscheinlich, weil wir keine Kinder hatten. Abgesehen davon war es etwas Besonderes, eine Ratte kennen zu lernen – keine aus der Tierhandlung, keine weiße, keine für Menschenkinder und Freaks gezüchtete, sondern eine richtige, eine wilde, deren Eltern im ewigen Kampf gegen Katzen und Menschen überlebt und sich fortgepflanzt hatten.

Piko zeigte uns, dass sie kein Kind einer Salonrättin, eines gezüchteten Versuchsratters war, das mit roten Augen hilflos in die Welt blinzelte und Alles über sich ergehen ließ. Piko hatte Stimmungen, unter denen sie selber und auch wir zu leiden hatten.

Vermutlich war der Käfig zu klein und auch wenn sich Piko in einen privaten Bereich zurückziehen konnte, in dem man sie nicht sah, war doch klar, dass sie uns immerzu hörte und nicht wirklich Ruhe fand.

Hören
 

 

Piko, das Rattenmädchen - Teil 4

Außerdem konnte sie sich darin nicht austoben und nutzte dafür die Stunden des Spiels mit Atsuko – manchmal – und mir.

Eines Abends, Atsuko war mit einer Freundin, die sie selten sah, in einem Restaurant verabredet, war ich beauftragt, mich um Pikos Auslauf zu kümmern. Ich sah der Zeit des Ratsittings mit froher Erwartung entgegen, legte mir ein neues Fischbestimmungsbuch aufs Bett im ersten Stock, ging dann zu Pikos Käfig, öffnete die kleine Drahttür. Die Ratte lief über meine ausgestreckte Hand, über meinen Unterarm, den Oberarm hinauf zu meiner Schulter. Sie liebte den Platz auf der Schulter, wegen der Aussicht und vielleicht aus strategischen Gründen.

Wir gingen zusammen die Treppe hinauf. Ich öffnete die Tür. Piko sprang mir von der Schulter auf´s Bett. Ich legte mich auf den Bauch, blätterte durch das Buch, verglich die Bilder dort mit denen in meinem Kopf. Piko hüpfte mitten hinein in die bunte Korallenwelt. Das Bild eines Rotfeuerfischs hatte es ihm angetan. Wahrscheinlich war ihm der stachlige große Kerl ein würdiger Gegner. Jedenfalls setzte er sich auf den roten schönen giftstachlig gefiederten Fisch und wollte mich nicht umblättern lassen. Ich bin nicht geneigt, mit einer Ratte zu diskutieren, wie ich ein Buch lese, hob Piko hoch und setzte ihn einen Meter entfernt auf ein Kopfkissen. Er schien einen Moment zu überlegen, kam dann zurück und legte sich wieder auf die Seite, auf der der Rotfeuerfisch abgebildet war. Ich beschloss umzublättern, und Piko aus dem Buch zu schütteln, sollte sie mich daran hindern. Kaum bewegte ich die Seite, biss mich Piko schmerzhaft in den Finger.

Für einen Moment hing das Tier an meinem Finger, den ich erschreckt in die Höhe hob. Es blutete nicht. Piko hat trotz seiner schlechten Laune nicht die Kontrolle über sich verloren. Es wäre Piko ein Leichtes gewesen, meinen Finger zum Bluten zu bringen.

Ungläubig blickte ich auf meinen Finger. Der Abdruck von Pikos Zähnen war deutlich zu sehen.

Piko hatte sich ans Kopfende des Bettes zurückgezogen, sah mich an und wartete ab, was ich unternehmen würde.

Ich meinte, dem Kerlchen eine Lektion erteilen zu müssen, schlug mit der flachen Hand auf die Matratze, dass das Körperchen in die Luft katapultiert wurde.

Piko hüpfte vom Bett, sauste durchs Zimmer, nur weg von dem riesigen Kerl, dem – berechtigt zwar aber doch unerwartet – die Geduld ausgegangen war.

Ich setzte ihm nach. Es gab kein Versteck.

Ich war im Vorteil. Die kleine Ratte musste müde werden. Sie kletterte am Fenstergitter hoch, ich scheuchte sie hinunter. Nach Minuten saß sie erschöpft atmend auf einem Stuhl.

Piko, begann ich, wenn du mich noch einmal beißt, kommst du nicht so davon.

Die Ratte blickte mich an, als hörte sie mir zu.

Also, fuhr ich fort, und untermalte meine Worte mit drohenden Gesten. Diesmal will ich …

Piko sprang ab, krallte sich an meinem T-Shirt fest, kletterte daran hoch und setzte sich auf meine Schulter.

Für Sekunden befürchtete ich, der Nager würde mich ins Ohr beißen oder in den Hals.

Aber nein, Piko hatte genug von unserer Auseinandersetzung und wollte sich in aller Form bei mir entschuldigen und wieder Freund sein. Als ich mich auf´s Bett setzte, kletterte er vorsichtig von meiner Schulter und suchte meine Hand. Ich begann ihn am Hals zu kraulen. Er legte den Kopf zurück, öffnete ein wenig den Mund – vollkommen entspannt und vollkommen vertrauend, als hätte es nie einen Streit zwischen uns gegeben.

 

Aber Piko hatte mit seinem Biss klar gemacht, dass etwas nicht stimmte, das nichts mit seiner Liebe zu dem Fischbild zu tun hatte.

 

Als er mich wieder biss, wurde ich vorsichtiger, nicht wegen des kleinen Schmerzes, sondern weil ich es als unwürdig empfand, vor einem Tier Angst zu haben, das nicht einmal ein Hunderstel meines Körpergewichts auf die Waage brachte. Bei einem Hund hätte ich einen Gegner gehabt, würde ich mit einem Stock drohend klar gemacht haben, dass ich mich wehren würde. Bei einer Ratte konnte ich mich nicht wehren. Sie würde den Stock als Teil der Strafpredigt verstehen. Denn natürlich würde ich nie Gewalt gegen Piko anwenden. Dazu war das kleine Rattenkörperchen zu zerbrechlich. Ich war machtlos seiner kleinen Willkür ausgeliefert und das führte zu einer Distanz zwischen uns. Denn Nähe ist von Vertrauen abhängig.

 

Als auch Atsuko gebissen wurde, plädierte ich für eine Freilassung des Tieres. Wenn sich Piko gegen uns durchsetzen würde, würde sie es wahrscheinlich zur Anführerin jeder Rattenbande bringen. Atsuko war nicht dieser Ansicht. Wir würden uns ja nicht wehren. Das wusste Piko und deshalb wäre sie so frei uns ab und zu zu zwicken. Sie hatte Recht.

Hören

bottom of page